48 Prozent

Auch wenn es gestern etwas anstrengender war, so konnten wir doch wunderbar schlafen, hier auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Dorfgemeinschaftshaus in Goudhurst. Außerdem haben wir gleich nebenan eine platingekrönte Toilette vom Feinsten. Nur für 2023 gilt dieser Award – muss wahrscheinlich immer neu erstritten werden – und das ist schon mal der erste Bonus des Tages.

Wir drehen noch eine Runde durchs hübsche Dorf und mir fällt wiederum auf, wie eng hier alles ist. Die Straßen, die Bürgersteige, die Parktaschen… Verkehrsberuhigung braucht man nicht. Das erledigen die überall geparkten Autos von alleine. Die Landstraßen sind eh schon schmal, aber in jedem Ort parken wild Autos, Transporter und auch mancher LKW am Straßenrand eine Fahrbahnseite zu und man hüpft von Lücke zu Lücke. Auch außerhalb der Dörfer macht mir nicht etwa das Linksfahren Probleme. Nur zu oft habe ich das Gefühl die Luft anhalten zu müssen, damit der Gegenverkehr durch passt. Nach links ausweichen ist auch keine Option. Hier lauern neben Dachvorsprüngen und Hecken nur all zu oft dicke Äste und Schlaglöcher oder sehr unbefestigte Seitenstreifen. Da fahre ich lieber langsam und bilde Autoschlangen, was aber hier niemanden aufregt. Die Gelassenheit der englischen Autofahrer ist einfach unschlagbar.

Pünktlich 09:50 stehen wir wieder vor dem Tor des Sissinghurst-Gartens, und wir sind nicht die einzigen. Ab 10:00 darf man die umliegenden Wälder durchstreifen und 11:00 öffnet der innere Garten, in den Luna nicht mit hineindarf. Wieder spare ich 15 Pfund plus Parkgebühr und habe schon mehr als die Hälfte meines Jahresbeitrages für den National Trust wieder eingespielt. Das lohnt sich, wenn man viele Sehenswürdigkeiten besuchen möchte, unbedingt!

Wir wandern also los und wen treffen wir? Meine Ranger von gestern Abend. Hinter dem Haupthaus ist ein kleiner Weiher versteckt und durch ein Schild wird Hundebesitzern mit wasserbegeisterten Tieren der Weg gewiesen. 

Und da baden die beiden Jungs ihre Luna. Genau, auch diese Hündin trägt den Namen und wir kommen gleich ins Gespräch. Wie es mir denn ergangen sei, ob ich eine gute Nacht hatte. Zwei Minuten später kommen noch 3 Hunde samt Besitzer dazu und wir verabschieden uns im Gewusel. Ein Mann läuft mit seiner Border Collie Hündin ein Stück mit und fragt, woher ich komme. Sofort wechselt er zu Deutsch und erklärt mir, warum er das kann. Eine Fußballpartnerschaft mit einem Verein nahe Bremen hat Freunde fürs Leben hervorgebracht, die nicht nur die andere Sprache sprechen, sondern sich auch bis heute besuchen, gemeinsam Geburtstage, Hochzeiten und mittlerweile die Geburt der Enkelkinder feiern. Super! Auf meine Frage, wie er denn den Brexit fände, meint er: „Ich bin ein Forty-eight-Percenter!“, das meint: Er gehört zu den knappen 48 Prozent, die gegen den Brexit gestimmt haben. Blöd findet er das und keiner soll sich bei ihm beschweren, wenn es jetzt schwierig auf der Insel ist. Als die Hunde sich knuffen wollen, trennen sich unsere Wege mit einem fröhlichen: „Viel Spaß!“

Ich bringe Luna ins Auto und mache mich auf in den wunderbaren Garten des Ehepaares Sackville-West und Nicolson.

1930 kaufte die Schriftstellerin Vita Sackville-West mit ihrem Mann, dem Historiker und Diplomaten Harold Nicolson ein verfallenes Anwesen, auf dem Reste eines Herrenhauses aus dem 16.Jahrhundert standen und von Brennnesseln überwuchert wurden. Daraus machten beide bis zu ihrem Tod in den 60ern ein Paradies für Gartenliebhaber.

Verschiedene Gartenräume wurden angelegt und mit Pflanzen bestückt. So gibt es z.B. einen Rosen-, Bauern-, Kräuter-, Staudengarten. Aber auch einen Trocken- und einen weißen Garten kann man durchwandeln. In dieser Jahreszeit sind viele Rosen zwar schon verblüht, aber trotzdem trifft man auf eine schier unfassbare Vielfalt von Farben, Formen und Gerüchen. Immer wieder entdecke ich eine neue Blütenform und kann mich kaum lösen.

Einer der Hauptgründe, warum vor allem Vita das Anwesen kaufen wollte, war der Turm.

Die Idee, dort ein Arbeitszimmer einzurichten schien ihr romantisch und heute kann man das ihre noch so sehen, wie sie es bei ihrem Tod 1962 hinterlassen hat. Nur wenige Gäste durften schon zu ihren Lebzeiten hinein. Auch ich schaue nur durch ein Gitter in den verdunkelten Raum.

Der Aufgang ist dekoriert mit in den Fenstern leuchtenden Glasgegenständen.

An den Wänden der oberen Kammern kann man aber auch noch geritzte Inschriften, der hier im 16.Jhd. inhaftierten französischen Seemleute aus dem siebenjährigen Krieg finden. Bis zu 3000 Soldaten sperrte man in diesem Anwesen ein und auf dem Bild kann man die damaligen und (mit der gelben Linie markiert) die heute erhaltenen Gebäudeteile erkennen.

Ich klettere bis aufs Dach des Turms, von dem man einen sehr schönen Ausblick auf das gesamte Anwesen hat und tauche dann noch einmal ab ins Meer der Formen und Farben.

Nun möchte ich einem Nobelpreisträger meine Aufwartung machen. Mister Rudyard Kipling, der Autor des Kinderbuchklassikers „Das Dschungelbuch“ erhielt diesen für sein literarisches Werk 1907. Von dem Preisgeld kaufte er sich nicht nur einen Rolls Royce, sondern auch ein hübsches Anwesen bei Burwash. 

Die Nobelkarosse ist leider ur hinter spiegelndem Glas zu bewundern.

Betritt man den Park, empfängt einen der wunderbare Gemüsegarten. Bohnen, Zwiebeln, Zucchini, Artischocken, Brunnenkresse und Rüben wachsen hier neben Obstbäumen und -sträuchern. Wie gern würde ich mich da für mein Mittagsmahl bedienen. Der Garten ist hübsch – aber kein Vergleich zu Vitas Blumenmeer. Man kann zu einer kleinen Mühle wandern und das Haus besichtigen, so wie Herr Kipling es in den 30ern zurückließ. 

Im Mulberry-Tea-Room gönne ich mir einen Kaffee und ein Sandwich, das schwesterlich mit Luna geteilt wird.

Nun ist es schon gegen drei. Ich setze meinen Vorsatz in die Tat um und kümmere mich heute eher um einen Übernachtungsplatz. Nahe der Küstenklippen „The Seven Sisters“ sollte er sein, denn da würde ich morgen gern irgendwie wandern. Park4Night bekommt eine zweite Chance und schlägt mir einen tollen Platz mit Ausblick vor, der nach 45 Minuten auch tatsächlich hält, was er verspricht. Und zwar doppelt. Man steht wunderbar einsam und windumtost ganz frei und kann in beide Richtungen ziemlich weit blicken: land- und meerwärts, aber nur, bis der Regen einsetzt, aber das stört uns nicht.

Blick ins Land
Blick zum Kanal
Parkplatz neben dem South Down Wanderweg

Wir wollte ja eh Pause machen und nach unserem kleinen Spaziergang ist das nun auch soweit. Ab 17:00 ist schreiben, lesen, faulenzen angesagt… denn draußen schüttet und stürmt es.

Kommt gut durch die Nacht.

Nachtrag am nächsten Morgen:

In all der Abgeschiedenheit gibt es natürlich viel zu wenig Internet, um geschmeidig bloggen zu können. Deshalb wurde das auf heute verschoben. Wir stehen nun unweit der „Seven Sisters“ auf einem Wanderparkplatz und machen uns gleich auf den windigen, aber von der Sonne beschienenen Weg entlang des Cuckmere River Deltas in Richtung Steilküste. Ein wunderbarer Waldparkplatz mit Picknicktischen, WC, ohne Barriere, mit flüssigem Internet, aber leider nur bis 20:00 geöffnet, lud mich ein, doch von hier zu starten. Ideal eigentlich auch zum Übernachten…. Aber der Tag ist ja noch lang.

3 Gedanken zu „48 Prozent“

  1. Wie gern hätte ich dich in den herrlichen Blumengarten begleitet, meine Liebe, aber du erzählst so wunderbar, dass man manchmal meint dabei zu sein. Schlaft gut, bis morgen, die Médrouxer

  2. Pingback: Kunst am Arsch der Welt – Vier Wochen weg

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